
Das „Goldene Zeitalter“ ist ein Roman einer tiefgreifenden Desillusionierung und brutalen Lebensbilanz. Der Erzähler Wang Er: „Erst später wurde mir klar: Leben heißt, dass man in einem langen qualvollen Prozess die Eier mit dem Hammer zertrümmert kriegt. Mit jedem Tag, den man älter wird, büßt man seine Träume ein, um irgendwann wie eines dieser kastrierten Rinder zu werden“.
Wir begleiten Wang Er durch Jahrzehnte seines Lebens. Es handelt sich um keine strikt chronologische Erzählung. In Einschüben berichtet er aus seiner Schüler- und Jugendzeit oder seiner Zeit, als er mit 40 Jahren geschieden wieder bei seiner Mutter wohnt oder der Phase, als sein unmittelbarer Vorgesetzter, der ihn bereits als Schüler kannte, ihm seine Schülerliebe weggeheiratet hat.
Sein Bericht beginnt in Yunnan, einer südwestlichen Grenzregion Chinas, wohin er in der chinesischen Kulturevolution mit dem Ziel der politischen Umerziehungverbannt wurde. Er lernt die Ärztin Chen kennen, sie beginnen eine Beziehungund werden „entdeckt“. Über Monate hinweg müssen beide schriftliche Selbstkritik üben wegen ihrer illegitimenBeziehung, die nach Auffassung der Kommunistischen Partei ins moralische Verderben führt. Die Parteikader sind aber dennoch offensichtlich an allen intimen Details äußerst interessiert. Die Berichtspflicht der beiden Sünder nimmt kein Ende. Das Paar muss öffentliche „Kampf und Kritik-Sitzungen“ über sich ergehen lassen, seine moralische Verkommenheit bekennen und der Partei danken, die sie „vom Dunkel ins Licht“ geführt hat. Zur moralischen Reinigung werden sie schließlich sogar zum Heiraten gezwungen, lassen sich am gleichen Nachmittag aber wieder scheiden.
Trotz aller Verfolgung, Unterdrückung und Erniedrigung bezeichnen Wang Er und Chen diese Jahre als ihr „Goldenes Zeitalter“ mit einer „Menge extravaganter Träume“. Denn langfristig ziehen beide eine brutale Lebensbilanz. Chen steht ihrem ehemaligen Geliebten in seinem brutalen Realismus in nichts nach: „Der Mensch ist auf der Welt, um bis zu seinem Tod gedemütigt zu werden. Wer das einmal verstanden hat, ist in der Lage, alles mit Gelassenheit zu ertragen“.
In weiteren Kapiteln begleiten wir Wang Er nach seiner Rückkehr nach Peking in seinem neuen Lebensabschnitt als Hochschuldozent. Er wandelt immer am Rande eines Disziplinarverfahrens und damit weiterer Massnahmen der Partei, kann aber auf die Rückendeckung durch den Rektorbauen, der ihn für ein großes Talent hält. Auch wenn trotz seiner Personalakte alle Sünden aus der Vergangenheit weitgehend vergessen sind ist die Decke für sein berufliches Fortkommen eingezogen, ein Auslandsaufenthalt wird ihm verweigert.
Wang Er versucht aber, sich treu zu bleiben: „Aus meiner Sicht besitzt das Dasein selbst einen unendlichen Zauber. Grund genug, leerem Ruhm und Reichtum zu entsagen. Ich habe keine Lust, anderen etwas vorzumachen, es sei denn, man zwingt mich mit Gewalt dazu. Diese Haltung hat mir nie Vorteile eingebracht. Aber angenommen, ich würde mein Dasein aufgeben was hätte ich dann davon?“
Viel später hat er dann gelernt, aus der erlittenen Not vielleicht keine Tugend, aber ein Überlebensinstrument zu machen,wenn er erkennt, dass ab einem bestimmten Punkt der Umstand, Intellektueller zu sein, auch seine Vorteile hatte: „Jeder wusste, dass unsereiner nichts zu verlieren hatte, mit Märtyrern wie uns legt man sich besser nicht an“.
Wang Er sieht aber auch seine Grenzen: „Wollte ich behaupten, mit ganzer Wahrhaftigkeit über unsere verflossenen Jahre geschrieben zu haben, wäre ich des Verbrechens der Heuchelei schuldig“. Auch führen die permanente Überwachung und Bedrohung zu einer Art ironischen Selbsthypnose des Betroffenen, wenn er sich mit den Worten beruhigen will: „Man darf nicht alles glauben, was man denkt“.
In seiner Kritik am kommunistischen Regime geht es Xioaboum Grundsätzliches, aber auch um die „Bloßstellung seiner Absurdität“. So beispielsweise, wenn der Parteikader ihm sagt, eigentlich seien Chen und er ja nicht gemeint, aber man habe aktuell einen „Mangel an Konterrevolutionären“, die manöffentlich vorführen könne, aber sie beiden seien ja verkommen genug, um diese Rolle zu übernehmen.
Wang Er zeigt aber auch, wie das System, wenngleich nur punktuell, zu bezwingen ist. Der ständigen Anforderung neuer Beziehungsberichte für lüsterne Parteikader überdrüssig,verfasst Chen erstmals ein nicht mit Wang Er abgestimmtes Geständnis – und beide werden aus der Verbannung entlassen.Erst Jahrzehnte später treffen sie sich zufällig und letztmalig wieder. Sie arriviert mit studierender Tochter, er als Großstadtbewohner und Hochschullehrer, dennoch aber davon überzeugt, dass er es über den Status eines „nutzlosen Banditen“ nicht hinausgeschafft hat. Jetzt erst erfährt Wang Er den Inhalt des Geständnisses. Nicht Dutzende von Geständnissen, die Beziehung zu Wang Er eingegangen zu sein und was im Bett alles geschah, sondern es aus Überzeugung und dazu noch gerne getan zu haben, hatte den Parteikadern die Aussichtslosigkeit ihres Erziehungsmodells vor Augen geführt. Eine kafkaeske Entwicklung.
Auch wenn vielfach politisch Belangloses erzählt wird, seine Kritik an der Parteidiktatur zieht sich wie ein roter, manchmal dunkel-, manchmal blassroter Faden, durch den Roman. Vor allem die Gräuel der Kulturrevolution brechen immer wieder durch: „Peking war damals in eine düstere Wolke gehüllt, die sich nie auflöste, wie ein zäher Klumpen Schleim. Unzählige Angehörige der Bergbauuni kamen in jener Zeit ums Leben, sprangen aus dem Fenster wie Herr He, erhängten sich, vergifteten sich, manche stachen sich sogar selbst mit Scheren und boten einen grauenhaften Anblick. Eine Angelegenheit wie die von Herrn He nahm sich dagegen wie ein harmloser Scherz aus“. Dieser Herr He wurde in der Kulturrevolution als Trotzkist „entlarvt“ und im Auditorium der Universität „nur“ geprügelt und genötigt.
Vor allem im ersten Kapitel wird man bald etwas genervt, weil es zunächst nur darum zu gehen scheint, wann, wo, wie und wie oft er mit Chen schläft. Das setzt sich in abgewandelter Form und mit anderen Gespielinnen auch in den folgenden Kapiteln fort. In Kenntnis so manch anderer literarischer Zeugnisse über Diktaturzeiten fremdelt man zunächst mit diesem Ansatz. Das soll Verarbeitungs- oder gar Widerstandsliteratur sein? Auch ist die lakonisch-ironische Form des Berichts sicherlich nicht alltäglich für diese Art von normalerweise „schwerer Literatur“ und daher gewöhnungsbedürftig.
Man muss aber folgendes bedenken: Zum einen, dass es sich um einen Kulturkreis und einen politischen Kontext handelt, der uns vorsichtig ausgedrückt nicht gerade sehr vertraut ist. Zudem lesen wir diesen Roman mit über 30-jährigen Abstand zu seiner Veröffentlichung im Jahre 1992 und mit rund 50 Jahren Abstand zu den Zeiten der Kulturrevolution, während der die Kommunistische Partei Chinas ihre Allmachtsphantasien bis in die kleinste Privatangelegenheit auslebte und Millionen von Menschenleben vernichtete.
Daher hilft die Einordnung seines Schreibens im Nachwort: „Seine Art, die gängigen literarischen Narrative über die Kulturrevolution – von den Opferbekenntnissen der so genannten Wundenliteratur in den frühen Achtzigern bis zur melodramatischen Verklärung in den frühen Neunzigern – durch Sex als anarchistische Widerstandsform zu dekonstruieren, war so unerhört wie innovativ“.
Wenngleich das „Goldene Zeitalter“ keine Autobiografie im strengen Sinne sein soll, so ist der Erzähler Wang Er dennochwohl vielfach literarisches Alter Ego des Autors. Wang Xiaobo (1952-1997) erlebte als Kind den Irrsinn der maoistischen Kampagnen wie „Der große Sprung nach vorn“ (die Zahl der Toten bewegt sich nach Schätzungen auf bis zu 55 Millionen Menschen) oder die ebenso verheerende Kulturrevolution mit ihrem alltäglichen Terror und seine eigene Verbannung.
„Das Goldene Zeitalter“ war sein erstes größeres literarisches Werk, das erst 1992 veröffentlicht wurde, und auch das nicht in China, sondern in Taiwan. In der VR China erschien sein Werk erst wenige Jahre nach seinem Tod, da war er bereits „unter jungen chinesischen Intellektuellen der Post- Tianmen-Generation in der chinesischsprachigen Welt außerhalb der VR zu einem gefeierten Kult Autor geworden“.
„Das Goldene Zeitalter“ ist bislang das einzige auf Deutsch erschienene Buch Wang Xiaobos.
Matthes & Seitz, Berlin
ISBN 978 3 7518 0988 7
Übersetzt von Karin Betz
La edad de oro
Galaxia Gutenberg
ISBN 978-841797 1625
Golden Age
Penguin Modern Classics
978-0241634226
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