Lualhati Bautista: Die 70er / Década ´70

Review also in English!

Die 2023 verstorbene Bautista gilt als „feministische Klassikerin aus Manila“. Der noch vor dem Ende der Marcos-Diktatur auf Tagalog erschienene Roman gilt als erster, der staatliche Gewalt in den Philippinen beschreibt.  Da Bautista zudem sehr umgangssprachlich, sprich deutlich, schreibt, stieß sie damit nicht nur auf politischen Widerstand, sondern erregte auch das Missfallen vieler Sprachpuristen.

Wer die Philippinen etwas kennt wird feststellen, dass eine ganze Reihe der in diesem Roman thematisierten Probleme nach wie vor von brennender Aktualität sind:  Das Auseinanderklaffen zwischen Armut und teils unermesslichem Reichtum, eine  hermetische Klassengesellschaft, Korruption, Gewalt, klientelare Abhängigkeitsverhältnisse, oligarchische Strukturen politischen Machterhalts, Entwicklung einer maoistischen Guerilla, separatistische Bewegungen im überwiegend muslimisch bevölkerten Südteil der Philippinen, eingeschränkte Geltung eines demokratischen Rechtsstaats um nur einige zu nennen.

Der Roman schildert die Geschichte eines gutsituierten, in traditionellen Strukturen und Werten lebenden Ehepaares mit seinen fünf Söhnen.

Amanda zweifelt an sich, ihrem Leben, ihrer Ehe, ihrer Zukunft und stellt ihre vermeintliche Zufriedenheit, gemessen „an den Standards einer materialistischen Welt“ immer stärker in Frage. Der Mann der Boss und sie „sitting pretty“? War Gebären denn nicht auch eine Macht? Sie hofft, „eine kleine Lücke zu finden in dieser weiten Welt, wo ich hineinpasse“. Bei dieser Suche, sexuelle Erfüllung einbegriffen, stößt sie zunächst auf Granit.  Denn in der Familie gilt das Lebensmotto Julians, des Ehemannes: „It´s a mans world, honey“. So verbietet er seiner Frau zu arbeiten („Talk about male chauvinist pigs“) und schließt aus seiner eigenen Zufriedenheit gedankenlos auf die seiner Frau. Amanda wird sich bewußt, dass sie „weder in meinem Leben noch in meinem Haus etwas zu sagen hatte“. Aber die Familienfassade musste aufrechterhalten werden.

Die Realität durchbricht brutal dieses übertünchte Familienidyll. Die Verhängung des Kriegsrechts durch Marcos bringt ihren Sohn Jules dazu, sich der maoistischen Guerilla anzuschließen, was ihn für Jahre ins Gefängnis bringt. Erst in Folge dieses Schocks entwickelt sich bei der bis dahin apolitischen und uninformierten Amanda ein Bewußtsein dafür, „womit sich die große Mehrheit meiner Landsleute herumschlagen musste“. Dennoch sieht sie sich mit Blick auf die Armut im Lande in keiner persönlichen Schuld und hadert damit, dass sie eines ihrer Kinder als „Abzahlung an irgendeine revolutionäre Bewegung verlieren musste“.

Aber es kommt noch schlimmer. Der gewaltsame und nicht aufklärbare Tod ihres Sohnes Jason, eines der Söhne, vermutlich Opfer der „salvaging“-Strategie der Sicherheitskröfte, bringt auch die letzten Gewißheiten ins Wanken. Dieser Tod weckt Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit unter der Präsidentschaft Rodrigo Dutertes (2016-2022) und seines blutigen „war on drugs“ mit Tausenden von Toten, für den er sich jetzt vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten muss.

Für Amanda wird die Frage nach dem „Warum“?  tiefer und größer. Sie befasst sich mehr mit politischen und sozialen Fragen, wozu auch ihr jüngster Sohn Bingo erheblich beiträgt, der sich journalistisch in diese Themen eingräbt. Die Hoffnung zum jeweiligen Jahreswechsel, dass es ein „Jahr frei von Unfassbarem, frei von Krankheiten, Unfällen, Razzien, Massenverhaftungen, Gefechten, Erschießungskommandos und feigen Morden“ werde, wird immer wieder enttäuscht.

Amanda bewundert zunehmend die rebellische Jugend, die aus dem System ausbricht: „Sie taten alles für ihre Visionen und Ziele,und die Messlatten des materiellen Erfolgs in einer bürgerlichen Gesellschaft waren ihnen egal“.

Der Roman ist nicht nur eine in die Jahre der Marcosdikatatur eingebundene Familiengeschichte. Er ist auch die Geschichte der Selbstbefreiung Amandas aus ihrer immer mehr als Gefängnis empfundenen Ehe. Zweifel sind erlaubt, ob sie dies trotz so mancher Fragen alleine, ohne die äußeren Anstöße und dramatischen familiären Ereignisse geschafft hätte, entscheidend ist, sie schafft es! In der Vermischung von Politischem und Privatem entkommt sie langsam der Sackgasse, in der sie sich in 27 Ehejahren kaum entwickeln konnte. Ihre Selbstachtung steigt: „Warum bin ich immer für dich, während du auch für dich selbst bist?“ Das führt zu ernsten Ehekrise.

Aber auch Julian ist, ebenfalls angestoßen durch Jules Guerilla-Aktivitäten und den Tod seines Lieblingssohnes Jason, zunächst unbemerkt von seiner Frau, langsam aufgewacht. Der Roman schließt damit, dass er das Angebot seines in den USA lebenden Sohnes überzusiedeln mit der Begründung ablehnt, er habe hier, in den Philippinen zu kämpfen.

Trotz der schwierigen Themen liest sich der Roman flott, was der lakonischen, ironischen und humorvollen Schreibweise geschuldet ist.

Auch über 40 Jahre nach seinem Erscheinen hat dieser Roman trotz allen positiven Wandels in den Philippinen an seiner Bedeutung und Aktualität kaum etwas eingebüßt und ist nach wie vor eine überaus lesenswerte Hinführung zu philippinischen Realitäten. Und das nicht nur, weil 2022 der Sohn des ehemaligen Diktators Marcos zum philippinischen Staatspräsidenten gewählt wurde.

Lualhati Bautista: Die 70er, Orlanda Verlag, übersetzt von Annette Hug

Danke an den Orlanda Verlag für das Rezensionsexemplar

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ENGLISH VERSION

Bautista, who died in 2023, is considered a „feminist classic from Manila.“ The novel, published in Tagalog before the end of the Marcos dictatorship, is considered the first to describe state violence in the Philippines. Because Bautista writes in a very colloquial, i.e., explicit, style, this not only met with political resistance but also aroused the displeasure of many language purists.

Anyone with some knowledge of the Philippines will recognize that a whole series of the problems addressed in this novel remain burningly relevant today: the gap between poverty and sometimes immense wealth, a hermetic class society, corruption, violence, clientelistic dependency, oligarchic structures for maintaining political power, the development of a Maoist guerrilla force, separatist movements in the predominantly Muslim southern part of the Philippines, and the limited validity of a democratic constitutional state, to name just a few.

The novel tells the story of a well-off couple with their five sons, living within traditional structures and values.

Amanda doubts herself, her life, her marriage, her future, and increasingly questions her supposed contentment, measured „by the standards of a materialistic world.“ The man is the boss and she „sitting pretty“? Wasn’t giving birth also a power? She hopes to „find a small gap in this wide world where I fit in.“ In this search, including sexual fulfillment, she initially encounters a barrier. For in the family, Julian, the husband’s motto, „It’s a man’s world, honey,“ holds sway. He forbids his wife from working („Talk about male chauvinist pigs“) and thoughtlessly assumes his wife’s contentment based on his own. Amanda realizes that she „had no say in my life or in my house.“ But the family facade had to be maintained.

Reality brutally disrupts this glossed-over family idyll. Marcos’s imposition of martial law leads her son Jules to join the Maoist guerrillas, landing him in prison for years. Only in the wake of this shock does Amanda, previously apolitical and uninformed, develop an awareness of „what the vast majority of my fellow countrymen had to deal with.“ Nevertheless, she sees no personal guilt for the country’s poverty and struggles with the fact that she had to lose one of her children „as payment to some revolutionary movement.“

But things get even worse. The violent and unexplained death of her son Jason, one of the sons, presumably a victim of the security forces‘ „salvaging“ strategy, shakes even the last certainties. This death brings back memories of the recent past under Rodrigo Duterte’s presidency (2016-2022) and his bloody „war on drugs“ with thousands of deaths, for which he must now answer before the International Criminal Court.

For Amanda, the question of „why“ becomes deeper and deeper. She becomes more concerned with political and social issues, to which her youngest son, Bingo, contributes significantly, delving into these topics as a journalist. The hope at the turn of each year that it will be a „year free of the unimaginable, free of illness, accidents, raids, mass arrests, skirmishes, firing squads, and cowardly murders“ is repeatedly dashed.

Amanda increasingly admires the rebellious youth who break free from the system: „They did everything for their visions and goals, and the yardsticks of material success in a bourgeois society were irrelevant to them.“

The novel is not only a family story set during the years of the Marcos dictatorship.

It is also the story of Amanda’s self-liberation from her marriage, which she increasingly felt like a prison. Despite many questions, doubts are allowed as to whether she would have achieved this on her own, without the external pressures and dramatic family events. The crucial point is, she succeeds! Blending the political and the private, she slowly escapes the dead end in which she has barely been able to develop in 27 years of marriage. Her self-esteem grows: „Why am I always for you, while you are also for yourself?“ This leads to a serious marital crisis.

But Julian, too, has slowly awakened, also triggered by Jules‘ guerrilla activities and the death of his favorite son, Jason, initially unnoticed by his wife. The novel ends with him rejecting the offer of his son, who lives in the USA, to emigrate, arguing that he has to fight here in the Philippines.

Despite the difficult themes, the novel reads briskly, thanks to its laconic, ironic, and humorous style.

Even more than 40 years after its publication, despite all the positive changes in the Philippines, this novel has lost little of its significance and relevance and remains a highly readable introduction to Philippine realities. And not just because the son of former dictator Marcos was elected Philippine president in 2022.

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