Christoph Hein hat in vielen Romanen sein eigenes Leben, davon 40 Jahre in der DDR, und damit auch Zeitgeschichte aus Ost- und Westdeutschland verarbeitet. So u.a. in dem lesenswerten Roman „Unterm Staub der Zeit. Eine Jugend im Schatten des Mauerbaus“ (2023). Mit seinem jüngsten Werk, dem 751-seitigen „Narrenschiff“, greift er zeitlich viel weiter aus. Der Roman beginnt mit dem Flug der Gruppe Ulbricht im April 1945 und nachfolgender Mitglieder des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ von Moskau nach Berlin, um die kommunistische Machtübernahme  in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) vorzubereiten und erstreckt sich bis zu den Anfängen der Wiedervereinigung. Dennoch reflektiert Hein nicht auf die „Stunde Null“, sofern es in der Geschichte so etwas überhaupt gibt. Jede der handelnden Personen bringt etwas aus ihrer Vorleben mit. Sei es die NS-Vergangenheit, seien es die Jahre in der kommunistischen Jugend, sei es das Moskauer oder das Exil im westlichen Ausland. Das kann Belastung und Motivation, oder beides sein. Häufig wird die Frage nach dem autobiographischen Anteil eines Romans gestellt, und ebenso häufig vom Autor offengelassen. Nicht so Hein. In wenigen, eigens kursiv gedruckten Zeilen, stellt er klar, dass er sich nur für wenige dieser 751 Seiten nicht verbürgen könne, ansonsten erzähle er nur, „was ich mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört habe, wenn ich nur Personen schildere, die ich zu meiner Freude oder zu meinem Leidwesen persönlich kennenlernte, sie schätzen durfte oder fürchten musste, die mir auf meinem Lebensweg behilflich waren oder mir Knüppel zwischen die Beine warfen“. Alles, so Hein, „eine wahre Geschichte“. So handelt es sich bei Kathinka beispielsweise um seine erste Frau. Der Roman konzentriert sich im Wesentlichen auf drei Personen und ihr Umfeld. Dr. Johannes Goretzka, in seiner Jugend NS-Anhänger, bekehrte sich in der Kriegsgefangenschaft zum glühenden Kommunisten und Stalin-Verehrer, im privaten Umgang ist kalt und unnahbar. Als fachlich hochqualifizierter Ingenieur und 180%iger Parteisoldat steht er kurz davor Minister zu werden. Er meint jedoch, aufgrund seiner bisherigen Verdienste in einer ihm wesentlich erscheinenden Fachfrage entgegen der Parteilinie auf seiner Meinung beharren zu können. Aufgrund seiner eigenen leidvollen Erfahrungen liest ihm Prof. Karsten Emser, Mitglied des ZK der SED, der ihn um Haaresbreite vor dem Parteiausschluss gerettet hat, die Leviten: „Man darf sich irren, aber nie gegen die Partei. Und wenn die Partei sich irrt, machst du einen Fehler, wenn du diesen Irrtum nicht teilst. Man darf nie gegen die Partei Recht haben, denn sie allein hat immer recht.“ An Goretzka wird exemplarisch vorgeführt, was es bedeutet, aufzusteigen, Parteidisziplin bis zur Selbstaufgabe zu üben, aber beim kleinsten Fehler oder einer behaupteten Abweichung tief zu stürzen und plötzlich sozial isoliert und beruflich degradiert weiter leben zu müssen. Und es ist schwer nachzuvollziehen, wie dieser Mann in seinem Kadavergehorsam verharrt, die Partei nach wie vor in Schutz nimmt und auf eine illusorische Rehabilitierung hofft. Aber da die Partei selbst über den Tod hinaus entscheidet, wo (ehemals) führende Parteikader beerdigt werden, findet er nicht einmal seine letzte Ruhestätte wie erhofft auf dem sogenannten Sozialistenfriedhof. Am beeindruckendsten erschien mir die Figur von Prof. Karsten Emser, die am detailliertesten und subtilsten geschildert, ja analysiert wird. Emser, wichtiger Mitarbeiter der KOMINTERN, der die Jahre im Moskauer Exil und die verschiedenen Säuberungswellen des stalinschen Terrors überlebt hatte, Rückkehrer der ersten Nachkriegsstunde, offenbart seiner Frau erst in seinen letzten Lebensmonaten zumindest Teile seiner Erlebnisse und Leidensgeschichte. Dazu gehört sein Schweigen bei der Auslieferung seines besten Freundes an die Nazis und dessen Ermordung im KZ aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes, eine kurze, aber eine der eindrücklichsten Passagen des Buches. Er wirft sich vor, zu oft geschwiegen zu haben, aus Angst, aus Feigheit: „Wir haben den Spiegel zerbrochen, um uns nicht selbst darin sehen zu müssen“. Emser sah von Gründung der DDR an, eines künstlich und gegen die Bevölkerung geschaffenen, später dann im wahrsten Sinne des Wortes eingemauerten Staates, dessen ökonomische Achillesferse und hegte erhebliche Zweifel daran, ob dieser Staat ökonomisch und damit auch politisch langfristig eine Überlebenschance haben würde. Seine Zweifel werden zur Gewissheit und er leidet an seiner Überflüssigkeit im ZK der SED, unternimmt aber nichts, weil er seine Professur nicht gefährden will, sein wichtigster Lebensinhalt. Als es gegen Hitler ging sah er sich auf der richtigen Seite der Geschichte. Aber diese Seite „verfinsterte sich, wurde rabenschwarz“. Und nun weiß er nicht mehr, wo er steht: „Vielleicht auf dem Deck eines Narrenschiffs…Und wieder schweige ich. Schweige wie damals“. Emser zieht eine verbitterte Lebensbilanz: „In Moskau war es eine schlimmere Zeit, viel schlimmer, aber die Hoffnungen, mit denen wir dann hier begannen, sie haben sich für mich zu einer Karikatur verzerrt“. Die bedauernswerteste Figur scheint mir Prof. Benaja Kuckuck zu sein. Der international anerkannte Literaturwissenschaftler wurde eher als Betriebsunfall in der Vorkriegszeit in England Parteimitglied, und zahlte in den nachfolgenden Jahrzehnten für diese emotionale Entscheidung, getroffen wegen seines Hasses gegen Hitler und Franco, einen hohen beruflichen und persönlichen Preis. Er geht nach dem Krieg nach Deutschland zurück, hofft auf eine versprochene Fortsetzung seiner Uni-Karriere, seine KP-Mitgliedschaft verhindert dies jedoch. Seine Übersiedlung in die DDR führt ebenfalls in eine Sackgasse, man verweigert ihm eine Professur, sein West-Exil spricht dagegen. Er endet als Abteilungsleiter für Kinderfilme und muss dafür auf Anweisung der SED sogar in die liberale Blockpartei übertreten, damit die pluralistische Fassade der „Nationalen Front“ gewahrt bleibt. Als versteckter Homosexueller findet er zwar einen Lebensgefährten. Aber berufliche Erfüllung sieht anders aus und er verpackt seine Verbitterung, Skepsis und Kritik in mehr oder weniger offene Ironie bis Sarkasmus und wandelt damit beständig am Rande des Kraters. Eher im Windschatten ihrer bedeutenden Männer sind die Frauen in diesem Roman angesiedelt. Yvonne Lebinski geht als Witwe eines jüdischen Widerstandskämpfers mit ihrer Tochter Kathinka die Versorgungsehe mit einem weitgehend gefühllosen Ehemann und Stiefvater Johannes Goretzka ein, der sich den Minimalbestand an Empathie für den gemeinsamen Sohn aufhebt und sich vor allem beruflich und bis zur Lächerlichkeit als Parteisoldat auslebt. Kathinka leidet lange unter dieser Lieblosigkeit, findet aber ihren eigenen Weg, der schließlich an der Seite ihres Mannes Rudolf in die Opposition führt. Yvonne selbst ist ein unpolitischer Mensch und tritt nur auf Druck ihres Mannes der