Jessica Zafra: Ein ziemlich böses Mädchen /The Age of Umbrage

Review also in English!

Asunción Pelayo, „Siony“ genannt, hatte das „Schicksal das Hirn vernebelt“. Trotz aller Warnungen lässt sie sich mit dem Hallodri Hernani ein. Guadalupe, genannt Guada, ist das Ergebnis. Siony steht als unverheiratetete 32-jährige in der konservativen philippinischen Gesellschaft kurz davor, „von der Bildfläche zu verschwinden“. Denn „die Schwerkraft würde bald ihre für alle sichtbaren Vorzüge zunichte machen“. Also heiratet sie diesen Nichtsnutz und entgeht damit „dem schlimmsten aller Schicksale…, im Wissen, dass eine unglückliche Ehe mit einem herumhurenden Nichtsnutz immer noch dem Leben in friedlicher Einsamkeit vorzuziehen sei“.

Zeitlich ist der kleine Roman in der Endphase der Marcos-Diktatur und dem Übergang zur Präsidentschaft von Cory Aquino (1986-1992) angesiedelt.

Hernani verlässt Frau und Kind. Siony wird Lehrerin, zieht ihr Kind alleine groß und kocht nebenbei für eine Kantine. Allerdings kommt sie nie so ganz los von ihrem faktischen Ex. Unterstützung findet sie bei Titus, dem homosexuellen Finanzier von Hernani, der zu ihrem „Mentor“, zu ihrer „Schwiegermutter“ wird.

Guada, frühreif, hochintelligent, mit dem Manko eines physisch überdimensionierten Kopf versehen, spricht, bevor sie laufen kann. Sie ist ein starker Charakter und früh fragen sich viele, ob sie noch als Kind oder als  „geschrumpfter Erwachsener“ anzusehen ist. Guada entwickelt sich zu einer begeisterten Leserin.

Das Schicksal greift in Gestalt des schwerreichen Don Placido Almagro, genannt „Paquito“ , in Sionys und Guadas Leben ein. Er engagiert Siony als Köchin für seinen Privathaushalt. Die beiden wohnen nun im Bedienstetentrakt der Familie, und Guada kann zusammen mit der jüngsten Tochter des Hauses, Emilia, auf die teure Privatschule gehen und wird jeden Tag mit dem Chauffeur zur Schule gefahren

Guada sozialisiert sich mit allen, kennt und akzeptiert keine Barrieren, spricht sogar unbefangen mit dem Sohn des Hauses nach dessen Quickie in der Bibliothek, zu dessen unfreiwilliger Zeugin sie geworden war.

Ihre Mutter geht demgegenüber eher auf Distanz, weiss sich manchmal in diesen gesellschaftlichen Strukturen der High-Society nicht so richtig einzuordnen. Siony führt im Almagro-Haus trotz der anständigen Behandlung, die nicht typisch für die Existenz von Hausangestellten ist, eine „geliehene“ Existenz.

Das Buch enthält vielfältige Momentaufnahmen, die eine Annäherung an die Mentalität und Kultur und somit der Gesellschaft der Philippinen ermöglichen. Sei es ihr Aberglaube und die Vielzahl der Mythologien, seien es sehr handfeste Themen.

Zafra hält ihren Landsleuten sehr selbstkritisch den Spiegel vor.

So am Beispiel, dass ein „Mestizo-Baby“, d.h. ein Kind von einem Ausländer als die ideale Lebensversicherung für junge Frauen angesehen wird.

Jessica Zafra brachte bei der Vorstellung ihres Buches auf der Leipziger Buchmesse das Problem der sozialen Mobilität in der geteilten, segmentierten, klassistischen philippinischen Gesellschaft auf einen kurzen Nenner: „Schönheit, Basketball und Politik“. Das sind die erfolgversprechenden Mittel sozialen Aufstiegs in einer stark segmentierten Gesellschaft. Vor allem gut auszusehen ist die Hälfte der Miete für für jeden Erfolg: „Du kannst immer schlaue Leute anheuern, für dich zu arbeiten, aber Schönheit ist ein Geschenk Gottes“. Und wenn das einheimische „blaue Blut“ fehlt, kann das durch Reichtum und europäische Abstammung ausgeglichen werden um dazuzugehören.

Zafra schreibt erfrischend und deutlich: “Wissen Sie, wer ich bin?“, rief der Bürgermeister in der universellen Rhetorik von Arschlöchern“.

Auch Ironie kommt nicht zu kurz, so wenn sie über das Ozonloch über den Schönheitssalons spottet wegen der Unmengen von Sprays, die täglich für die Damen der High-Society versprüht werden, um diese zur  „unbeweglichen Perfektion“ zu stilisieren.

Aber auch andere Themen werden aufgegriffen: Korruption, Binnenmigration, zunehmende Verstädterung und damit einhergehende

Slumbildung, besondere Privilegien für Männer, Arbeitsmigration ins Ausland, um nur einige zu nennen.

Guada sucht und findet ihren eigenen Weg zwischen Mutter und Familie Almagro, negative Erlebnisse nicht ausgeschlossen, so wenn die strohdumme Emilia immer bessere Noten erhält als sie selbst.

Zum positiven Erlebnis wird für Guada ein Walkman, ein Geschenk ihres abwesenden Vaters. Mit dem Kopfhörer konnte sie „von diesem Moment an…die Grenzen ihres eigenen Planeten genau bestimmen, dessen Landschaft aus Wörtern und dessen Luft aus Musik bestand“.

Das Schicksal schlägt unvermittelt zu. Siony, die über Jahre in ein Grundstück in den USA als Altersvorsorge investiert hatte, fällt einem Betrüger zum Opfer und stirbt am Schock über diese Katastrophe. Guada muss mit dem plötzlichen Tod der Mutter zu Recht kommen. Eine Tante will sie zwingen zu ihr zu ziehen, die Hausherrin Sara Almagro setzt sich jedoch durch, Guada bleibt im Haushalt der Almagros: „Das war es, was man mit Geld kaufen konnte, fand Guada an diesem Tag heraus, die Macht, über das Leben anderer Leute  zu entscheiden, einfach, weil man es konnte“.

Wir verlassen Guadalupe im Alter von 15 Jahren, allein in der Welt, in der Schule unglücklich, im Haus Almagro eher unsichtbar. Aber mit der Gewissheit, dass dieses sympathische und durchsetzungsstarke Mädchen seinen Weg gegen alle Widerstände gehen wird. Sorgen muss man sich um dieses Menschenkind nicht machen

Es ist ein lesenswertes kleines Buch, auch wenn der deutsche Titel dieser „coming of age“-Geschichte, Zafras erster Roman, nicht so ganz passend ist.

Dank an den Transit-Verlag für das Rezensionsexemplar!

Ein ziemlich böses Mädchen

Transit

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THE AGE OF UMBRAGE

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Asunción Pelayo, known as “Siony,” had “fate clouding her mind.” Despite all warnings, she gets involved with the ne’er-do-well Hernani. Guadalupe, known as Guada, is the result. As a 32-year-old unmarried woman in conservative Philippine society, Siony is on the verge of “disappearing from the scene.” For “gravity would soon destroy her assets, visible to all.” So she marries this good-for-nothing and thus escapes “the worst of all fates… knowing that an unhappy marriage to a philandering good-for-nothing is still preferable to a life of peaceful solitude.”

The short novel is set in the final phase of the Marcos dictatorship and the transition to the presidency of Cory Aquino (1986-1992).

Hernani leaves his wife and child. Siony becomes a teacher, raises her child alone, and cooks for a canteen on the side. However, she never quite manages to get away from her de facto ex. She finds support in Titus, Hernani’s homosexual financier, who becomes her “mentor” and “mother-in-law.”

Guada, precocious, highly intelligent, but with the disadvantage of a physically oversized head, speaks before she can walk. She is a strong character, and early on many wonder whether she should still be considered a child or a “shrunken adult.” Guada develops into an avid reader.

Fate intervenes in the lives of Siony and Guada in the form of the wealthy Don Placido Almagro, known as “Paquito.” He hires Siony as a cook for his private household. The two now live in the family’s servants‘ quarters, and Guada is able to attend an expensive private school with the youngest daughter of the house, Emilia, and is driven to school every day by the chauffeur.

Guada socializes with everyone, knows and accepts no barriers, and even talks freely with the son of the house after his quickie in the library, which she had unwittingly witnessed.

Her mother, on the other hand, keeps her distance, sometimes unsure of how to fit into these high-society structures. Despite the decent treatment she receives, which is not typical for domestic workers, Siony leads a “borrowed” existence in the Almagro house.

The book contains a variety of snapshots that provide insight into the mentality and culture, and thus the society, of the Philippines. These range from superstition and mythology to very tangible issues.

Zafra holds up a very self-critical mirror to her compatriots.

For example, a “mestizo baby,” i.e., a child of a foreigner, is considered the ideal life insurance for young women.

When presenting her book at the Leipzig Book Fair, Jessica Zafra summed up the problem of social mobility in the divided, segmented, classist Philippine society in a nutshell: “Beauty, basketball, and politics.” These are the promising means of social advancement in a highly segmented society. Above all, looking good is half the battle for any success: “You can always hire smart people to work for you, but beauty is a gift from God.” And if you lack the local “blue blood,” wealth and European ancestry can compensate for it and help you fit in.

Zafra writes refreshingly and clearly: “Do you know who I am?” shouted the mayor in the universal rhetoric of assholes“.

There is no shortage of irony either, such as when she mocks the ozone hole above beauty salons because of the vast quantities of sprays that are sprayed daily on high society ladies to stylize them into “immovable perfection.”

But other topics are also addressed: corruption, internal migration, increasing urbanization and the associated

formation of slums, special privileges for men, labor migration abroad, to name but a few.

Guada seeks and finds her own path between her mother and the Almagro family, not without negative experiences, such as when the stupid Emilia always gets better grades than she does.

A positive experience for Guada is a Walkman, a gift from her absent father. With the headphones, she was able to “from that moment on… precisely determine the boundaries of her own planet, whose landscape consisted of words and whose air consisted of music.”

Fate strikes suddenly. Siony, who had invested in a property in the US for years as a retirement provision, falls victim to a fraudster and dies of shock over this catastrophe. Guada has to come to terms with her mother’s sudden death. An aunt wants to force her to move in with her, but the lady of the house, Sara Almagro, prevails, and Guada remains in the Almagro household: “That was what money could buy, Guada discovered that day, the power to decide other people’s lives simply because you could.”

We leave Guadalupe at the age of 15, alone in the world, unhappy at school, rather invisible in the Almagro household. But with the certainty that this likeable and assertive girl will go her own way against all odds. There is no need to worry about this young person.

It is a readable little book, even if the German title of this coming-of-age story, Zafra’s first novel, is not entirely fitting.

The Age of umbrage University Press, Quezon City PH

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