Am Ort des Geschehens gekauft und in der Bucht von Lima gleich mit dem Lesen begonnen.
Um es vorweg zu sagen: Dieses Buch ist eine Liebeserklärung des peruanischen
Nobelpreisträgers an sein Land, seine Kultur, vor allem aber an die Musik – den “vals criollo”,
den „kreolischen Walzer“. Diese Musik, erfunden in den Armenvierteln der peruanischen
Hauptstadt Lima, Ergebnis der „Mysterien und Wunder der peruanischen Armut“, ist keine
Musik für die Einsamkeit, sondern „eine soziale Institution“.
Erzählt wird die Geschichte von Toñio Azpilcueta, einem Musikbegeisterten, unerwartet in
seinen akademischen Karriereträumen ausgebremst, bevor er richtig durchstarten konnte. Er
arbeitet als Aushilfslehrer, schreibt Zeitungsartikel, ohne seine tatkräftige Frau Matilde könnte
die Familie jedoch kaum überleben. Aber Toñio macht sich einen Namen als Kenner der
peruanischen Musik.
Eines Nachts hört er in einer Kneipe einen unbekannten jungen Gitarristen, Lalo Molfino,
dessen Gitarrenspiel ihn packt und „die Seelen aller Anwesenden bis zu dem Punkt magneti-
siert, wo alle sozialen, rassischen, intellektuellen oder politischen Unterschiede zweitrangig
werden“.
Sehr viel später stellt Toñio Nachforschungen an und muss feststellen, dass der junge Mann
bereits verstorben ist. Er will ein Buch über Molfino schreiben und entdeckt dessen tragische
Geschichte. Als Baby wurde Lalo auf einem riesigen Müllplatz im Norden des Landes
ausgesetzt in der Hoffnung, dass die Ratten ihn fressen. Ein italienischer Priester namens
Molfino findet den Jungen, adoptiert und zieht ihn auf. Lalo findet auf dem Müllplatz eine
Gitarre. Das ist der Beginn seiner Begeisterung für dieses Instrument, die für nichts anderes in
seinem Leben Platz lässt. So sehr er seine Zuhörer begeistert, persönlich ist er ein schwieriger
Einzelgänger und stirbt sehr jung in Lima.
Aus der geplanten Biographie wird zum großen Teil ein Buch über Peru, vom Inkareich bis zur
aktuellen Lage, gekennzeichnet durch den Terror des maoistischen „Sendero Luminoso“, des
„Leuchtenden Pfads“. Gezeichnet wird ein durch enorme Spaltungen geprägtes Peru: zwischen
arm und reich, zwischen denen, die spanisch und denen, die Quechua sprechen, zwischen
denen, die in vergessenen Bergregionen ums Überleben kämpfen, und den Bewohnern der
entwickelteren Küstenregionen.
Vargas Llosa wechselt zwischen der Erzählperspektive und persönlichen Meinungseinschüben.
Während Toñio es überwiegend bei einer generellen Bestandsaufnahme der peruanischen
Probleme belässt, benennt Vargas Llosa eher die Ursachen und sieht die Hauptverantwortung
für die Teilung der Gesellschaft in der Kolonialzeit. So herausragend er
die spanische Sprache als Integrationsfaktor für den lateinamerikanischen Kontinent bewertet,
für die Kolonialzeit, aber auch für die Diktatur des Inka-Reichs, hat er ansonsten keine
Sympathie. Allerdings differenziert er. Besser die Spanier als die Briten, denn, so die
Erfahrungen aus Nordamerika, wenn die Briten die Eroberer Lateinamerikas gewesen wären,
hätten sie es nach gigantischen Massakern entvölkert.
Dennoch bleiben historische Schuld und aktuelle Verantwortung: Denn die „indios sind
gestorben wie Fliegen, aber ohne auszusterben. Jetzt sind sie die benachteiligte zweite Klasse,
die es aufzurichten und an die Macht zu bringen gilt.“
Toñio träumt von einer Gesellschaft, in der alle anerkannt sind und wie Menschen, nicht wie
Tiere behandelt werden. Menschen, „die gemeinsam fortschreiten, sich respektieren und so zu
einem Modell-Land in Lateinamerika werden“. Dabei kommt der Musik die entscheidende
Rolle zu: „Menschen einander anzunähern und die Vorurteile und den Rassismus zu
bekämpfen“. Es gehe darum, die sozialen Vorurteile und den Rassismus in Peru zu überwinden,
indem sich „blanquitos“ und „indios“ vermischen, darin liege das „wahre Peru“. Die Größe
Perus soll nicht mehr an den Inka-Tempeln festgemacht werden, sondern an der Vermischung
aller Peruaner.
Das Buch wird zum Erfolg. Tonio wird an die Universität berufen, sein Traum geht in Erfüllung.
Aus dem “loquibambio“, dem „Verrückten“, dem „Spinner“, ist ein allseits anerkannter
Professor geworden. Und nun gibt es für Tonio kein Halten mehr. Der Glaube an seine These
der aussöhnenden Wirkung der Musik wird maßlos. Nun gilt es, die Weltprobleme zu lösen. Er
erweitert sein Buch um immer neue, auch aus anderen Ländern stammende Beispiele, die
seine These belegen sollen. Er erweitert entgegen allen Ratschlägen das Buch um weitere 100
Seiten, zwingt seinen Verleger zur Veröffentlichung und überzieht damit endgültig.
Das in seiner Ursprungsversion so erfolgreiche, aber mehrfach erweiterte Werk gilt nun als
unlesbar, ist unverkäuflich. Tonio verliert seine Professur und taucht ab, schreibt wieder kleine
Zeitungsartikel und seine Frau sichert das Überleben der Familie. Der Lebenskreis schließt sich.
Dennoch hat sich Toñio am Ende mit seinem Schicksal ausgesöhnt. Dass seine heimliche und
unerfüllte Liebe Cecilia, eine erfolgreiche Sängerin, ihm gesteht, dass seine These von der Rolle
der Musik ihr immer wieder Kraft gegeben habe, ist ein durchaus versöhnlicher Schluss.
Wie soll man Toñios These angesichts der Problemfülle in Peru, aber auch in Lateinamerika,
Peru steht stellvertretend für viele, wenn nicht alle lateinamerikanischen Gesellschaften,
nennen? Wunsch, Traum, Vision, Illusion? Jedenfalls brechen die verschiedentlichen
realistisch-skeptischen Einschübe des Autors sich schließlich auch bei Toñio Bahn. Auf die
Frage Cecilias, ob er nicht mehr glaube, dass sich die Probleme werden lösen lassen antwortet
Toñio: „Eines Tages, vielleicht. Aber Du und ich werden das nicht erleben, Cecilia. Die
Probleme sind sehr groß und es gibt keine so leichte Lösung“.
Dieses Buch ist sicher nicht vergleichbar mit den großen Romanen des
Autors. Es sprengt eine eindeutige Gattungszuschreibung, es ist Roman, Kulturessay und
persönliches Bekenntnis. Es ist ein interessantes und gut zu lesendes Buch, sowohl was die
Geschichte von Toñio angeht als auch das, was man über Peru lernen kann.
Wer kein Experte für peruanische Musik ist, und ich bin keiner, der kann viel Zeit damit
verbringen, die Namen der Musiker und Komponisten im Internet zu suchen und sich die
zahlreich aufgeführten Musikstücke auch anzuhören. Vargas Llosa kündigte mit Erscheinen dieses Buches an, dass es sein letztes gewesen sei. Er
wolle nur noch einen Essay über Jean Paul Sartre schreiben. Man darf gespannt sein. Aber wer
weiß, vielleicht ist trotz seiner 88 Jahre das letzte Wort noch nicht gesprochen, besser gesagt
geschrieben.
Die deutsche Übersetzung ist am 12. August bei Suhrkamp unter dem Titel „Die große Versuchung“erschienen.
Mario Vargas Llosa
Die große Versuchung
Suhrkamp ISBN 978-3518431788
Le dedico mi silencio
Alfaguara ISBN 978-8420476599