von Louise Kennedy
Die Geschichte spielt in Nordirland in den siebziger Jahren.
Man wird sehr schnell in die Atmosphäre des erbitterten Konfessionskonfliktes, der Nordirland über Jahrzehnte blutig geprägt hat, hineingezogen. Das den Katholiken am Aschermittwoch gegebene Aschenkreuz auf der Stirn gilt als „papistische Kriegsbemalung“. Selbst die Kinder verfügen über ein detailliertes Kriegsvokabular und werden im gegenseitigen Religionskrieg beeinflusst. Die Schulzeiten gegenüberliegender Konfessionsschulen werden so gelegt, dass die Schüler nicht zur gleichen Zeit auf die Straße kommen, um Auseinandersetzungen zu vermeiden.
Die Gewalt ist in diesem Buch allgegenwärtig. Sei es in Form von Bomben, Attentaten, Autobomben, oder von ganz gezielten, brutalen und mörderischen Angriffen auf zielgerichtet ausgesuchte Personen. Beklemmend ist die vermittelte Machtlosigkeit jedes einzelnen in diesem brutalen Kontext.
Die gesellschaftliche Spaltung berührt alle Lebensbereiche der Menschen, der soziale Druck in Form des „Herdentriebs“, der individuelles Verhalten kaum möglich macht oder ächtet, verschärft die alltägliche Situation.
In diesem Kontext treffen wir die 24-jährige Cushla. Sie ist Lehrerin an einer katholischen Schule, hilft ihrem Bruder Eamonn in seinem Pub aus, Cushla und Eamonn sind katholisch, die Gäste des Pubs jedoch überwiegend Protestanten, die sich in einer „gemischten Gegend“ fühlen, da etwa 10% der Bevölkerung Katholiken sind.
Cushla kümmert sich seit dem Tod ihres Vaters um ihre alkoholkranke Mutter. Ein Privatleben hat sie nicht. Das ändert sich, als sie im Pub den über 50-jährigen Anwalt Michael Agnew kennenlernt. Sie ist von ihm sofort beeindruckt. Kleine Gesten, Blicke, allein Betonung von Wörtern entwaffnen sie völlig. Da ist etwas an ihm, was dazu führt, „dass man besser sein möchte, als man ist“. Die beiden verlieben sich und beginnen eine Beziehung.
Damit sind die Probleme vorgezeichnet. Denn Michael ist nicht nur Protestant, sondern auch verheiratet. Dies, und der erhebliche Altersunterschied, stößt in Cushlas Familie, aber auch im Freundeskreis von Michael auf wenig Verständnis. Die Konfliktlinien überschneiden sich, traditionelle Vorstellungen dominieren. Diese Liebe sprengt alle gesellschaftlichen Konventionen und Zulässigkeiten. Warnungen werden offen ausgesprochen: Das tut man nicht.
Die Verliebtheit von Cushla ist sicherlich zum Teil auch erklärbar durch eine Art Vaterkomplex. Ihrem verstorbenen Vater trauert sie sehr nach. Aber nach und nach schwimmt sie sich von der Dominanz Michaels frei und wird zur ebenbürtigen Partnerin.
Gleich zu Beginn der Erzählung wird der Vater eines ihrer kleinen Schüler, Davy, als Katholik in einem protestantisch dominierten Stadtteil lebend, überfallen und zum Krüppel geprügelt. Cushla nimmt daraufhin Davy und auch die Familie etwas unter ihre Fittiche. Sie kann aber auch nicht verhindern, dass die Familie weiter Ziel von Hass und Gewalt wird, ihr Haus einem Brandanschlag zum Opfer fällt und die Familie daraufhin auseinandergerissen wird.
Michael, der bereits als junger Mann in der Bürgerrechtsbewegung engagiert war, vertritt als Anwalt vor allem Menschen, insbesondere Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt oder auf irgendeine Weise in den Strudel der politischen Ereignisse geraten sind oder gar zu Folteropfern wurden.
In einer Gemengelage sehr unterschiedlicher Motive nimmt die Tragödie ihren Lauf. Michael wird vor den Augen seiner Frau in seinem Haus erschossen. Die katholische Terrororganisation IRA übernimmt die Verantwortung mit der absurden Begründung, Michael sei Teil des korrupten Justizsystem.
Der Täter, Thommy, das ist die absurde Steigerung der Tragödie, ist der älteste Bruder von Davy. Thommy schweigt während des Prozesses, seine ganz persönlichen Motive dürften allerdings in seiner Verliebtheit in Cushla liegen, weshalb er wohl Michael aus dem Weg räumen wollte.
Da Cushla der Familie in der Vergangenheit geholfen hat, sie in der Brandnacht sogar bei sich zu Hause übernachten ließ, gerät auch sie in Verdacht. Bei den Polizeivernehmungen stellt sich heraus, dass Michael seit langem rund um die Uhr observiert wurde und ihre Beziehung daher kein Geheimnis war. Sie verliert ihre Stelle als Lehrerin, gerät ins Abseits.
Die sinnlose Gewalt durchzieht diese gesamte Lebens- und Liebesgeschichte. Cushla, die sich mit Selbstvorwürfen und der Frage quält, warum das passiert ist und wie es hätte verhindert werden können kommt schließlich zu dem Schluss: „Es war nur Pech, das, was hier die ganze Zeit geschieht“.
Der Tod Michaels hat aber nicht nur Konsequenzen für Cushla selbst, sondern auch für ihre Familie. Sie wird sozial geächtet. Der bislang gut besuchte Pub des Bruders verliert nach und nach seine Kunden. Die Katholiken, weil sie nicht in den Verdacht geraten wollen, wie Cushla die Familie des Attentäters zu unterstützen. Die Protestanten, weil Michael einer der Ihren war.
Schließlich wird auch auf den Pub ein Bombenattentat verübt, die berufliche Existenz von Eamonn ist damit endgültig zerstört. Die Familie verlässt Belfast.
In einem Zeitsprung von gut 40 Jahren treffen wir Cushla wieder. Sie hatte geheiratet, ist Mutter und Großmutter und trifft in einer Ausstellung auf Davy.
Liebesgeschichten sind nicht so unbedingt mein bevorzugter Lesestoff. Diese hat mich jedoch gepackt und ich merke, wie ich auch Wochen nach dem Ende der Lektüre gedanklich immer wieder auf dieses Buch zurückkomme. Ein schöneres Kompliment kann man einem Buch, gerade angesichts der Tragödie und Tristesse, nicht machen.
„Trespasses“ war 2023 für den Women Price for Fiction Short gelistet. Das Buch ist unter dem Titel „Übertretung“ auf Deutsch im Steidl Verlag erschienen.
Louise Kennedy:
Trespasses
Bloomsbury ISBN 978-1526623324
Übertretung
Steidl Verlag ISBN 978-3969992593
Días de ceniza
Catedral ISBN978-84-18800-49-8