Sergio del Molino: Los alemanes

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Interessanter historischer Hintergrund dieses Buches ist eine kaum bekannte Episode aus dem 1. Weltkrieg. Im Februar 1916 war die bis dahin deutsche Kolonie Kamerun von den Alliierten erobert worden, was zur Flucht der dort ansässigen Deutschen führte. 627 von ihnen erreichten am 2. Mai 1916 das spanische Cádiz, nachdem sie sich vorher den neutralen spanischen Behörden in Guinea ergeben hatten und interniert worden waren.

Diese Deutschen blieben in Spanien, in Pamplona, Alcalá de Henares und Zaragoza. Bald waren sie berühmt und bekannt als die „Deutschen aus Kamerun“.

Molino hat diese Episode bereits in anderen Publikationen zum Gegenstand gemacht, so in „Los soldados en el Jardín de la Paz. Huellas de la presencia alemana en Zaragoza 1916-1956“ aus dem Jahre 2009. Ging es darin um die Geschichte der „Deutschen aus Kamerun“, so ist „Los alemanes“ reine Fiktion.

Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung der beiden Geschwister Fede und Eva mit der Geschichte ihrer zerrütteten Familie. Diese war geprägt durch den dominierenden, rücksichtslosen Vater und eine Mutter ohne eigenen Antrieb oder Gestaltungsspielraum. Die Familie lebt auf, wenn der Vater auf Geschäftsreise ist, dann spielt die Mutter sogar Klavier.

Zum endgültigen Bruch kommt es, als der Vater seinen ältesten homosexuellen Sohn, Gabi, auf Deutsch als „Schwuchtel“ beschimpft und schlägt. Gabi verlässt das Elternhaus und macht internationale Karriere als Musiker.

Gabi, von Natur aus gerne provozierend, nichts ernst nehmend, übte früh eine allerdings zunächst eher folkloristische Kritik an den „Kamerun-Deutschen“, ihren Nachfahren und ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen Nazitum. So wurde in den Kindheitstagen der Geschwister das deutsche Gemeinschaftsgefühl durch samstägliche Treffen auf dem deutschen Friedhof gepflegt, auf dem auch Mitglieder der Legion Condor liegen. Dieses Festhalten an einem idealisierten, imaginierten Deutschland, in dem nie einer von ihnen gelebt hatte, verlor über die Jahre an Bindungskraft. Dennoch: Franco-Spanien war zwar offiziell neutral, stand aber Nazi-Deutschland alles andere als feindselig gegenüber und es kam zu massiven Einflussnahmen von Nazi-Organisationen auf die „Auslandsdeutschen“. Dies blieb im Falle des Vaters Schuster offensichtlich nicht ohne langfristige Auswirkungen. Erst spät wird den Geschwistern klar, dass Gabi offensichtlich mehr über die Verstrickungen seines Vaters wusste, und auch dies zu dem dramatischen Bruch mit ihm führte.           

Fede lebt seit vielen Jahren als eher ehrgeizloser Germanistik-Dozent an der Uni in Regensburg, nahezu völlig abgenabelt von seiner Rest-Familie.

Seine Schwester Eva ist sicherlich die lebenspraktischste der Geschwister. Sie hat nicht nur die bankrotte Firma ihres Vaters abgewickelt und die Verantwortung für ihn, einen inzwischen schweren Pflegefall, übernommen. Sie ist kommunalpolitisch erfolgreich und steht kurz vor einer nationalen Karriere.

Nach vielen Jahren treffen sich die Geschwister bei der Beerdigung ihres Bruders Gabi in Zaragoza wieder. Trotz der Trennung war Gabi für beide immer, wenn auch unterschiedlicher Bezugspunkt.

Gestorben in seinen Vierzigern, wohl aufgrund der Folgen auch von Drogenkonsum, war Gabi ein erfolgreicher Musiker. Er umgab sich immer mit Menschen, die in welcher Form auch immer von ihm abhängig waren, weniger Freunde als Nutznießer und Speichellecker. Allerdings machte er sich darüber auch keine Illusionen. Fede sieht das alles sehr kritisch und kann damit nicht umgehen. Eva verteidigt ihren Bruder gegen Vater und Bruder. Gabi habe so gelebt, wie er wollte, „ganz im Gegenteil zu unseren Leben voll von Dingen, die wir nicht möchten“. Fede und Eva gefangen in unfreiwilligen Lebensmustern?

Die Themen Einsamkeit, Schweigen, Verlorenheit, Entwurzelung, Identität, Verantwortung und Vergeltung prägen in unterschiedlichem Ausmaß die Lebenssituation der Akteure.

Die am eindrücklichsten geschilderte Figur ist für mich Berta, Kindheits- und Jugendfreundin vor allem Gabis, erfolgreiche, aber vereinsamt in Deutschland lebende  Physikerin, deren einziges Lebenselexier neben ihrem Job die Opernbesuche sind und deren Familiengeschichte ein Kontrastprogramm zur Schusterfamiliedarstellt.

Die Erzählung ist eine Fiktion, in einer Lesung bekannte Molino jedoch, dass sich auch gewisse autobiographische Züge entdecken lassen. So stellt Berta für ihn das Ideal eines konsequent gelebten Stoizismus dar, während er seine negativen Eigenschaften eher in Fede reflektiert sieht.

Die Geschichte strebt ihrem Höhepunkt zu, als mit Ziv, einem jüdischen Israeli, der Vertreter eines Konzerns auftaucht, der sich zur Erreichung seiner Geschäftsziele nicht nur legaler Methoden bedient. Ziv ist überzeugt, dass sich der „Nazismus über das Blut überträgt. Er ist keine Ideologie, er ist eine Krankheit wie Hämophilie oder Diabetis“, und dass sich Schuld vererbt. Er droht, dunkle Geheimnisse der Familie Schuster publik zu machen, sollte Eva ihr ablehnendes Stimmverhalten zu einem Großprojekt des Konzerns nicht ändern.

Erst langsam wird den Geschwistern klar, worum es geht. Nun müssen sie sich zu der Vergangenheit ihrer Familie verhalten.

Eva hält ein Aussitzen dieser Zwangslage politisch nicht für realistisch, lässt sich aber auch nicht erpressen. Sie übernimmt dadurch de facto die Schuld ihres Vaters, ihre verheißungsvolle politische Karriere steht vor dem Aus.

Fede, dessen berufliche Zukunft durch den auch in Regensburg spürbaren Einfluss des israelischen Konzerns ebenfalls in Frage gestellt ist, sieht das ganz anders: „Man kann eine Erbschaft ausschlagen, also kann man auch ignorieren, was unsere Eltern gemacht haben“. Er will sich nicht für einen „harmlosen Freizeitnazi“ in Haftung nehmen lassen.

Das Kontrastprogramm zu den beiden ist Berta, die, so Molino, die Auffassung vertritt: “Wissen befreit nicht“.

Gefangen in der Vergangenheit, gar der Schuld der (Vor)väter? Oder gibt es sie, die von einem deutschen Bundeskanzler so bezeichnete „Gnade der späten Geburt“? In diesem Roman jedenfalls nicht.

Für den Erzähler ist klar: „Die Vergangenheit wird gegenwärtig, sobald man sie berührt. Es spielt keine Rolle, dass Du nicht eingegriffen hast, es spielt keine Rolle, wie unschuldig Du bist oder wie frei Du Dich fühlst“.

Der zunehmend melancholische Grundzug der Geschichte um Einsamkeit und Verlorenheit kulminiert dann im Abschlusskapitel mit Tagebuchnotizen von Franz Schubert:

„Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des Andern versteht! Man glaubt immer, zueinander zu gehen, und man geht immer nur neben einander. O Qual für den, der dies erkennt!“

Soweit ich das sehe, wurde Molino auf Deutsch bislang nur mit seinem 2022 im Wagenbach Verlag veröffentlichten Buch „Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab“ verlegt.

Der Titel „Los alemanes“ weckte mein Interesse und ich wurde nicht enttäuscht.

Der Roman ist kompositorisch interessant gemacht. Die knappen Kapitel betrachten jeweils aus der Sicht vor allem von Fede und Eva, ergänzend von Berta und anderen die Geschehnisse. Zu den intensivsten Kapiteln zählt zweifelsohne das Zwiegespräch Bertas mit ihrer unerfüllten Lebensliebe, dem toten Gabi, an seinem frischen Grab. Das Mosaik dieser überwiegend inneren Monologe fügt sich langsam zusammen, der Spannungsborgen bleibt bis zum Schluss erhalten.

Die Musik spielt eine Rolle, ein QR Code ermöglicht das Hören der im Buch erwähnten Musikstücke.

„Los alemanes“ wurde mit dem „Premio Alfaguara de novela“ 2024 ausgezeichnet und wird hoffentlich bald in einer deutschen Übersetzung zugänglich sein. Mit dieser Geschichte und den darin aufgeworfenen Fragen dürfte Molino auch in Deutschland zweifellos ein breiteres Echo erreichen als mit „Leeres Spanien“.

Es gilt, diesen spanischen Autor für ein deutsches Lesepublikum zu entdecken.

Sergio del Molino: Los alemanes

Alfagauara 2024, ISBN: 978-84-204-7682-7

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