Reseña tambíen en español
Im März 2014 erkrankt der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez an einer Lungenentzündung. „Das wird nichts mehr“, lautet die unmittelbare und realistische Einschätzung seiner Frau Mercedes. Die kurz darauf ergehende Krebsdiagnose gibt ihr Recht.
Die Krankheit des weltbekannten Autors der „Hundert Jahre Einsamkeit“ und vieler anderer Werke des „Magischen Realismus“ wird schnell zu einer öffentlichen Angelegenheit. Die Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, immer ein Anliegen von „Gabo“, wie ihn seine Freunde nennen, erweist sich als zunehmend schwierig.
Während dieser Wochen notiert der älteste Sohn Rodrigo seine Eindrücke, eine Reihe von Begebenheiten und punktuelle Erinnerungen. Er weiß früh, dass er diese veröffentlichen will, aber erst nach dem Tod seiner Mutter Mercedes.
Zum Zeitpunkt der Krebsdiagnose war García Márquez bereits seit Jahren stark demenzkrank.
Der zunehmende Kontrast zwischen der hohen Intensität und Konzentration seines Schreibprozesses, aufgrund derer García Márquez täglich über Stunden „in einem narrativen Labyrinth (verloren)“ war, zu dem durch die Demenz verursachten schrittweisen Verlorengehen in Zwischenwelten ist für Gabo wie für seine Familie und Umgebung eine brutale Erfahrung.
Diese für alle so entsetzliche Phase des Übergangs und des Bewusstwerdens des eigenen Verschwindens, die Arno Geiger in seinem Buch „Der alte König in seinem Exil“ so beeindruckend beschrieben und eingefangen hat, wird auch in der Familie Márquez zur Belastung und Herausforderung.
Auch wenn García Márquez in der Übergangsphase sein Humor („Ich verliere das Gedächtnis, aber zum Glück vergesse ich, dass ich es verliere“) und eine Portion Gelassenheit („Alle behandeln mich wie ein Kind. Wie gut, dass ich das mag“.) sicherlich geholfen haben, vermag das die Endgültigkeit dieses Prozesses nicht zu verdecken.
So steht García Márquez im Garten, starrt vor sich hin und sagt auf die Frage nach seinem Befinden, dass er weine, „aber ohne Tränen. Ist Ihnen nicht bewusst, dass mein Kopf jetzt kaputt ist?“
An Schreiben war schon lange nicht mehr zu denken. Die meisten, nicht alle seiner Bücher haben mir sehr gut gefallen, auch der erste Band seiner Memoiren, „Leben, um davon zu erzählen“. Wie viele andere auch hatte ich den Gerüchten geglaubt, Márquez schreibe an weiteren Bänden, ja selbst auf posthume Veröffentlichungen gehofft. Nun wissen wir, dass er dies nicht tat. Er befürchtete, er könne in ein belangloses name-dropping abgleiten. „Für mich ist sowieso nur der erste Band interessant“, sagte er. „Da geht es nämlich um die Jahre, die mich zum Schriftsteller gemacht haben“. Denn: „Nach meinem achten Geburtstag habe ich nichts Interessantes mehr erlebt“.
García Márquez kann die Gesichter seiner beiden Söhne nicht mehr zuordnen, auch seine Frau erkennt er phasenweise nicht mehr, seine eigenen Bücher liest er wieder, aber nur die Umschläge oder sein eigenes Bild wecken ferne Erinnerungen. Seine Familie muss erkennen, dass “der Mann, mit dem wir sprechen, kaum präsent ist, kaum etwas von allem begreift, kaum er selbst ist.“
Eine Freundin bringt es auf den Punkt: „Er weiß also nicht, dass er sterblich ist, der Glückliche“.
Sterblich aber ist er. Die Diagnose, nur noch wenige Monate zu leben, verkürzt sich schneller als erwartet auf Wochen, schließlich dramatisch rasch auf 24 Stunden.
Rodrigo schildert sehr offen und auf sehr private und intime Weise, wie die Familie mit der Demenz und der tödlichen Diagnose umgeht. Das schließt selbst für die Angehörigen seltsam anmutende Verhaltensweisen mit ein. Beispiel: Während ihr Sohn seiner Mutter die tödliche Diagnose mitteilt, nimmt diese ein Telefonat an, und ihr Sohn staunt „über dieses lebende, atmende Musterbeispiel für Verdrängung“.
Das Buch enthält eine Reihe kleiner privater Alltagsszenen aus vielen Jahren, nicht nur aus den Wochen der Agonie, sondern aus der Erinnerung aufsteigende, für Gabo wie Mercedes charakteristische Begebenheiten.
Es ist ein gut, manchmal salopp geschriebenes, sehr intimes, sehr privates Büchlein, das ungewohnte Nähe ermöglicht.
Während bei seinem Vater dessen Sterben und die Schwierigkeiten des Abschiedes im Mittelpunkt stehen, sind die wenigen, seiner sechs Jahre später verstorbenen Mutter Mercedes gewidmeten Seiten vor allem eine Hommage an diese Frau. Eine “Frau ihrer Zeit, ohne höhere Bildung, Mutter, Ehefrau und Hausfrau“, die sich ihres Platzes im Leben sehr sicher war.
Die Bezeichnungen „Die heilige Mutter“ oder auch“ Die oberste Chefin“ kamen nicht von ungefähr. Charakteristisch ihre Verärgerung über die Trauerrede des mexikanischen Staatspräsidenten, der sie als „Witwe“ bezeichnete: „Ich bin nicht die Witwe. Ich bin ich.“
Natürlich spielt auch der Autor selbst eine Rolle, als Kind. Er formuliert Einsichten und Erfahrungen, die alle teilen, die ihre Eltern verloren haben. Deren „Abwesenheit verstärkt unsere Zuneigung und macht uns versöhnlicher“. Man trauert den verpassten, ja selbst unmöglichen Gelegenheiten nach: „Ich würde alles geben, eine Stunde mit meinem Vater als neunjährigem Bengel zu verbringen“.
Nicht zu sprechen von der Sorge, dass „ich sie (die Eltern) vielleicht nicht genug gekannt habe, und auf jeden Fall bedaure ich, dass ich sie nicht mehr nach dem Kleingedruckten in ihrem Leben gefragt habe, nach ihren geheimsten Gedanken, ihren größten Hoffnungen und Ängsten“.
Dieser „Abschied“ macht bewusst, dass der über Jahrzehnte im Rampenlicht stehende Erfolgsautor, die öffentliche Person García Márquez, auch Ehemann und Vater war und ermöglicht so einen sehr kleinen Einblick in die Dimension seines Lebens, die durch die normale Berichterstattung nicht ausgeleuchtet werden kann.
Die nicht einmal 140 Seiten, erstmals 2021 auf Englisch erschienen, liegen nun auch auf Deutsch vor. Der kleine Band schließt ab mit einigen privaten Fotos aus dem Familienalbum.
Für „Gabo“- Fans eine persönliche, interessante, berührende Lektüre. Das Büchlein des Sohnes verdient seinen Platz im Regal neben den Werken des Vaters.
Rodrigo García: Abschied von Gabo und Mercedes:Erinnerungen an meinen Vater Gabriel García Márquez. Aus dem Spanischen von Elke Link Kiepenheuer & Witsch ISBN 13-978-3462003055
Rodrigo García: Gabo y Mercedes: Una despedida Literatura Random House ISBN 978-8439739142
Das letzte Buch von García Márquez: „Wir sehen uns im August“ / „En agosto nos vemos“ wurde vor einigen Wochen in diesem Blog besprochen!