Review also in English! „Luklak ist ein Mensch, der einmal aufrecht stehen und auf zwei Beinen gehen konnte, aber in kürzester Zeit ist sie auf den Zustand eines kriechenden Geschöpfes zurückgeworfen“. Wer würde bei diesen Sätzen nicht an Gregor Samsa in Kafkas „Verwandlung“ denken? „Das Meer der Aswang“ ist jedoch um ein Vielfaches mystischer. Das Mädchen Luklak verwandelt sich in eine „Aswang“. Dieses wohl bekannteste Fabelwesen der philippinischen Mythologie ist die Verkörperung der absoluten Freiheit. „Sie steht zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit und zwingt dazu, den Unterschied zu bedenken. So sieht es die Schöpfung vor“. Dies ist vielleicht das zentrale Definitionselement einer Aswang. Es gibt kaum einen zeitgenössischen philippinischen Roman, in dem nicht zumindest Anklänge an die vielfältige Mythenwelt der Phillipinen und ihrer zahlreichen Ethnien enthalten sind. Derain macht daraus einen ganzen Roman. Er verbindet Mythen unterschiedlicher philippinischer Ethnien mit der Kolonialgeschichte des Archipels. Derain hat diesen Roman bewußt nicht in Manila angesiedelt, viele Filipinos sprechen mit Blick auf den nach wie vor dominierenden Zentralismus der Hauptstadt nicht mehr vom „Manila imperial“, sonden vom „Manila infernal“, vom „teuflischen Manila“. Der Roman spielt auf der tatsächlich existierenden Insel Panay und dem fiktiven Dorf Bariwbariw in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Philippinen sind spanische Kolonie und stehen nicht nur unter der Herrschaft der spanischen Krone, sondern vor allem unter der „frailokratie“, dem dominierenden Einfluss verschiedener Mönchsorden. Neben der Metamorphose Luklaks ist durchgängiges Thema die politisch-gesellschaftliche Metamorphose der Philippinen, ihr Verhältnis zur Kolonialmacht Spanien und den Mönchsorden aber auch die Bedrohung durch muslimische Piraten. Hier spiegeln sich die Debatten wieder, die typisch für Gesellschaften sind, die sich in Übergangsprozessen neuen Einflüssen ausgesetzt sehen. Begibt man sich auf den Weg in eine unbekannte Moderne oder hält man um jeden Preis an altbewährten Traditionen fest, wagt man die Kooperation oder übt man Widerstand? Oder verfügt man über ausreichend Selbstbewußtsein für das Anverwandeln neuer Einflüsse? Von den von mir besprochenen 15 Büchern zum Gastland Philippinen der Frankfurter Buchmesse 2025 ist „Das Meer der Aswang“ für europäische, im weitesten Sinne auch nicht-philippinische Leser sicherlich das am fremdesten anmutende. Man muss sich an die fremdklingenden Namen, Titel und Geschichten der vielgestaltigen Mythenwelt der Philippinen und ihrer vielen Ethnien gewöhnen. Dabei geht es um keine harmonischen Geschichten bezaubernder Feen. Es geht vielmehr hart zur Sache. Die Mutter wird wegen eines Fehltritts mit wem auch immer zum Tod verurteilt, der von ihr zur Welt gebrachte Aal wird ertränkt! Luklak holt ihn aus dem Grab und verspeist ihn, gibt den Wandelwesen jedoch nichts ab – Damit beginnt die Geschichte ihrer Metamorphose. Eine Besprechung ist nicht einfach, nahezu unmöglich, denn nur einen Ausschnitt wiederzugeben verkürzt zu stark, eine Zusammenfassung des an sich wenig ausgestalteten Handlungsstrangs aber ebenfalls. Die Haupthandlung besteht im Kern „lediglich“ in der phasenweisen Verwandlung Luklaks in ein Krokodil, eine Aswang. Über Strecken spielt Luklak selbst aber keinerlei Rolle, sondern es geht um die unterschiedlichsten Wandelwesen, Faulatmige oder Schadmeister und weitere seltsame Gestalten. Um Göttinnen und Heiler. Und um all die teils verworrenen Beziehungen untereinander. Interessant ist dabei die biblische Erklärung der Wandelwesen. Gott hatte der natürlichen Familienplanung eine Obergrenze gesetzt, die der Mensch missachtetet, Dana Bier zudem die Güte Gottes unterschätzte und ihm die Kinder verheimliche wollte. Diese wurden dann zu Wandelwesen. Wem das jetzt zu abschreckend klingt: „Das Meer der Aswang“ entwickelt einen seltsamen Sog, man wird unwiderstehlich hineingezogen in diese Geschichten, und merkt plötzlich, dass Luklak über weite Strecken gar nicht mehr vorkommt. Das hat vielleicht mit folgendem zu tun: Was einen, zumindest mich, verwundert: Luklak selbst wundert sich nicht besonders über das, was mit ihr geschieht, weder versucht sie sich zu wehren noch hadert sie mit ihrem Schicksal. Sie nimmt es an. Es bleibt nichts anderes als – selbst lesen!! Derain will mit diesem Buch eine Trilogie eröffnen – man darf gespannt sein! Dass die Übersetzung dieses Romans ins Deutsche kein einfaches Unterfangen war geht aus dem Nachwort der Übersetzerin Annette Hug hervor. Trotz aller Schwierigkeiten lag für sie die Spannung dieses Textes zwischen dem modernen Bewußtsein des Erzählers und dem mythologischen Fundus, aus dem er diese Geschichten zusammenfügt. Daraus „entsteht etwas Neues, das unmöglich scheint, dass der Alltag aber sehr vielen Menschen abverlangt: in einer Welt zu leben und zu denken, in der vorstaatliche, animistische Lebens- und Glaubensweisen weiter wirken und gleichzeitig staatliche und wirtschaftliche Strukturen, den Anschluss an Megastädte und die globale Ökonomie herstellen“. In einem hilfreichen Nachwort erklärt Derain den Ursprung und die Zielsetzung seines Romans. Er bewegt sich mit diesem Roman in einer historischen wie mythologischen Welt, beruhend auf Forschungsarbeiten und Fiktionen. Der Roman ist 2021 auf Filipino erschienen und wurde von Jessica Zafra, Autorin von „Ein ziemlich böses Mädchen“ ins Englische übersetzt. Allan N. Derain, Das Meer der Aswang Danke an den @unionsverlag, @beckverlag für das Rezensionsexemplar. ++++++++ ENGLISH VERSION „Luklak is a human being who could once stand upright and walk on two legs, but in a very short time she is reduced to the state of a crawling creature.“ Who wouldn’t think of Gregor Samsa in Kafka’s „Metamorphosis“ when hearing these sentences? „Aswanglaut,“ however, is far more mystical. The girl Luklak transforms into an „aswang.“ This arguably best-known mythical creature in Philippine mythology is the embodiment of absolute freedom. „It stands between humanity and inhumanity and forces one to consider the difference. This is how creation intended it.“ This is perhaps the central defining element of an aswang. There is hardly a contemporary Filipino novel that doesn’t contain at least echoes of the diverse mythological world of the Philippines and its numerous ethnic groups. Derain turns this into an entire novel. He combines myths of various Filipino ethnic groups with the colonial history of the archipelago. Derain deliberately did not set this novel in Manila; in view of the capital’s still-dominant centralism, many Filipinos no longer speak of „Imperial Manila“ but rather of „Infernal Manila,“ „Devilish Manila.“ The novel is set on the real island of Panay and the fictional village of Bariwbariw in the mid-18th century. The Philippines is a Spanish colony and is not only under the rule of
José Rizal: Noli me tangere
„Identitätsstiftender Revoutionsroman“, „Nationalepos“, „Befreiungsroman“, „antikoloniale Kampfschrift“ – mit diesen Attributen wird das Buch „Noli me tangere“ (1873) des philippinischen Nationalhelden José Rizal belegt. Zu Recht? Wer war, was wollte Rizal? Worum geht es? Wer die Philippinen in den Blick nimmt, stößt ganz schnell auf José Rizal, den philippinischen Nationalhelden mit deutscher Vergangenheit. Rizal verbringt nach einem Aufenthalt in Spanien 1886 u.a. in Heidelberg einige Monate, praktiziert bei einem Augenarzt, taucht in die Studentenwelt einschließlich der medizinischen Versorgung der schlagenden Burschenschaften ein. Vor allem aber schreibt er an seinem in Madrid begonnenen Buch weiter, das er in einem Pfarrhaus im einigen Kilometer von Heidelberg entfernten Wilhelmsfeld beendet und das als „Noli me tangere“ („Rühre mich nicht an“) 1887 in Berlin in spanischer Sprache gedruckt wird. Das Pfarrhaus in Wilhelmsfeld, in dem Rizal „Noli me tangere“ beendet hat. Die biographischen Parallelen zwischen Rizal und der Hauptfigur von „Noli“, Ibarra, liegen auf der Hand. Auch Rizal kommt aus einem vermögenden Elternhaus, was seine Mutter aufgrund einer Intrige eines Ordens nicht vor einem mehrjährigen Gefängnisaufenthalt bewahrte. Seine Familie gerät unter Druck wegen seiner Reden und Veröffentlichungen in Spanien. Diese werden als Ausdruck eines hochverräterischen Unabhängigkeitsstrebens interpretiert. Man warnt ihn vergeblich vor einer Rückkehr auf die Philippinen. Rizal fühlte sich jedoch sicher, seine Waffe war das Wort, nicht das Schwert. Er solidarisierte sich daher nicht mit der philippinischen Befreiungsbewegung „Katipunan“, die ab 1892 gegen die spanische Kolonialherrschaft kämpfte: „Seine Hoffnung ruhte auf der Wissenschaft, der Volksbildung und hygienischen Verbesserungen. Aber es wurde behauptet, er sei mit dabei. Sein Name hatte sich selbstständig gemacht, er sei ein Wunderdoktor hieß es. Einen Agenten des deutschen Imperialismus nannte man ihn, einen Propheten des alten oder des neuen Lichts, einen Salon, Revoluzzer, Frauenheld, den ersten Romancier, einen Landesvater.“ (Hug, Wilhelm Tell in Manila, Wunderhorn). Selbst Politik zu machen war nicht seine Sache. Dennoch wurde er, im wesentlichen begründet mit seinen beiden Büchern „Noli“ und dem nachfolgenden Buch „Die Rebellion“ („El Filibusterismo“), als einer der wesentlichen Rädelsführer der Aufstandsbewegung ausgemacht und am 30. Dezember 1896 in Manila im Alter von 35 Jahren standrechtlich erschossen Der Rizal-Park an der Manila Bay erinnert daran. Rizal Park in Intramuros, Manila Worum geht es in „Noli me tangere“? Rizal kannte das 1852 erschienene Buch „Onkel Toms Hütte“ und wollte, zunächst gedacht als Kollektiv-Projekt mehrere Autoren, ein Buch über die Situation in den Philippinen schreiben. Die Philippinen, bis heute das katholischste Land in Asien, sind seit 1565 spanische Kolonie, aber „in Madrid regieren und auf den Philippinen leben ist zweierlei“. Die spanische Krone ist weit, verschiedene spanische Mönchsorden sehr nah, so dass deren Einfluss, vielfach als „Frailokratie“ (von „frailes“, sprich „Brüdern“ abgeleitet) als bedeutender als die formale Macht des offiziellen Statthalters der Krone eingeschätzt wird. Das Kollektiv-Projekt scheiterte und Rizal machte sich alleine an die Arbeit. Eine der Hauptfiguren des Romans ist der junge Ibarra, der nach sieben Jahren Aufenthalt in Europa auf die Philippinen zurückkehrt um das väterliche Erbe anzutreten und seine Kindheitsliebe Maria Clara zu heiraten. Warnungen vor den Fallstricken der tatsächlichen lokalen Machtverhältnisse schlägt Ibarra in den Wind, er werde nicht vor „grotesken Götzen den Kopf beugen“. Sehr schnell gerät Ibarra jedoch in das Wirkgeflecht lokaler und religiöser Autoritäten. Vor allem die Intrige eines Paters, selbst alles andere als ein Heiliger, der aus seinem fundamentalistischen Klerikalismus heraus bereits Ibarras Vater in den Tod getrieben hat, stellt sein Leben und das seiner Braut komplett auf den Kopf. Ibarra macht eine Verwandlung durch. Zu Beginn ist er zufrieden damit, „dass unser Volk sich nicht beklagt, dass es nicht leidet wie die Völker anderer Länder, und das haben wir der Religion zu verdanken und dem Wohlwollen der Regierenden“. Seine dramatischen persönlichen Erfahrungen weiten ihm aber den Blick auf Unterdrückung, Ausbeutung und Perspektivlosigkeit seiner Landsleute und er schließt sich der Auffassung an, dass „der Frieden nicht das höchste Gut ist“. Zu einem changierenden Kontrastprogramm zur Radikalisierung Ibarras wird Elias, der ihn zuerst zum Kampf bewegen, ihn dann aber davon abhalten will, da die Rechnung solcher Aufstände immer die Unschuldigen und Wehrlosen bezahlen müssten. Ibarra aber will um jeden Preis „grundlegende Reformen bei der bewaffneten Macht, bei der Geistlichkeit, in der Rechtsprechung. Mehr Achtung vor der Menschenwürde, mehr Sicherheit für den Einzelnen…,weniger Privilegien für eine Organisation, die so gerne Missbrauch damit treibt“. Spät sieht er „das furchtbare Krebsgeschwür, das diese Gesellschaft befallen hat, das sich in ihr Fleisch frisst und das man mit scharfen Messern ausschneiden muss. Meine Feinde haben mir die Augen geöffnet, sie haben mir die schwärende Wunde gezeigt….Seit 300 Jahren strecken wir Ihnen die Hand hin, bitten, um ihre Liebe, sehnen uns danach, sie unsere Brüder zu nennen. Und wie erwidern Sie das? Mit Schimpf und Spott, sie sprechen uns sogar ab, menschliche Wesen zu sein! Es gibt keinen Gott, es gibt keine Hoffnungen, es gibt keine Menschlichkeit! Es gibt nur das Recht der Gewalt!“ „Ich werde dieses unwissende Volk wachrufen, ich werde ihm sein Elend vor Augen führen! Es soll nicht denken, die anderen wären Brüder, denn es gibt nur reißende Wölfe! Ich werde ihnen sagen, dass gegen diese Unterdrückung das ewige Recht des Menschen steht, seine Freiheit zu erobern!“ „Noli“ ist mit seiner poetischen, ironischen und sarkastischen Sprache eine gut verpackte, aber schonungslose Analyse der kolonialen Philippinen. Das Buch ist, und so wurde es von den spanischen Autoritäten auch verstanden, ein Aufruf zur Selbstermächtigung: Sie, gemeint sind die Spanier, „haben immer recht, weil wir ihnen immer recht geben! Geben wir einmal uns selber recht und reden dann weiter“. Für alle Beteiligten kommt es zu einem dramatischen, teilweise offenen Ende. Für den alten Philosophen Tassio, der Kirche und Gesellschaft permanent den Spiegel vorhält, liegt Finsternis über den Philippinen. Die Aufklörung ist weit. Er ist aber auch überzeugt, dass der Mensch nicht in der Lage (ist), den Fortschritt im Keim zu ersticken…Das Dogma, der Galgen und der Scheiterhaufen, die ihn aufzuhalten, versuchen, treiben ihn nur voran“. Daher trotz allem kein Roman der Hoffnungslosigkeit. Vielleicht liegt gerade darin seine historische Bedeutung. Seine Strategie zur Ausmerzung des Krebsgeschwürs und Gesundung seines Vaterlandes legt Rizal in seinem Nachwort