Café Größenwahn.1890-1915. Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde.

von Dirk Liesemer

Selbst wenn es der Titel, der auch schon für Krimis und einen Song von Udo Jürgens verwendet wurde, nahelegt: Es geht nicht um ein bestimmtes Café, auch nicht um das gleichnamige im Frankfurter Westend.

Vielmehr wurden in den Jahren der Wende zum 20. Jahrhundert verschiedene Cafés in Wien, München und Berlin mit der übergreifenden Bezeichnung „Café Größenwahn“ belegt. Der Begriff passte „perfekt in eine Zeit so vieler neuer Ideen, Fantasien und Sichtweisen, auch ein ordentlicher Schuss juveniler Übermut klingt an. Der Name macht in den Kreisen der Boheme jedenfalls rasch Karriere und wird bald nach München und Berlin exportiert. So einprägsam ist er, dass er einmal als die Metapher für die vielen geistigen und künstlicherischen Aufbrüche rund um die Wende zum 20. Jahrhundert gelten wird .“

Nach Erich Mühsam ist der Bohemien: „…in erster Linie ein Skeptiker, ein Mensch, der die Welt so fatalistisch, wie nur denkbar ansieht, einer, der vom Leben nichts erhofft und der deshalb darauf los lebt, mit der erhabenen Wurschtigkeit, die ihn dem bourgeoisen Geschäftstrotter gegenüber als Ausnahmewesen, als komischen Kauz erscheinen lässt. Aus diesem darauf Losleben mag dann wohl bei diesem oder jenem der Goldige Optimismus entstehen, der…erst recht die Fühlung mit der Umwelt aufhebt und in tausend sternbunten Illusionen entschwebt“. Etwas prosaischer definierte es ein anderer Café-Gänger: „Unser Hintern fährt dritte Klasse, unser Haupt ragt über die Wolken“.

Für diese Zeitgenossen wurden das Kleine Café oder das Café des Westens in Berlin, das Café Stefanie in München und das Café Griensteidl in Wien zum Laufsteg, auf dem uns in diesen Wendejahren Dutzende von sehr unterschiedlichen Namen und Charakteren begegnen: Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr, Arnold Schönberg, Frank Wedekind, Max Halbe, Karl Kraus, Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow, Peter Altenberg, Elke-Lasker Schüler, Eduard Graf von Keyserling, Johannes R. Becher, Hans Bötticher (der spätere Joachim Ringelnatz) oder Max Reinhardt, um nur einige zu nennen.

Die Lebensentwürfe der Kaffeehausdauergäste bewegen sich zwischen Kunst und Lebenskünstler, zwischen ernsthaft Arbeitenden und ausgebufften Schnorrern, deren literarische Existenz über Gedanken auf Notizzetteln nicht hinausgelangt.

Einige verschwanden ebenso schnell wieder von der Bildfläche wie sie an den Kaffeetischen aufgetaucht waren. Andere blieben über die Jahre präsent, konnten aber keine dauerhafte Wirkung für die Nachwelt entfalten. Die einen bleiben lokale Größen, die außerhalb ihrer Stadt niemand kennt, die anderen bewegen sich zwischen den drei Städten hin und her, die Boheme war flexibel und mobil, die permanenten Geldsorgen dabei kein Hindernis, schaffen aber dennoch nicht den Durchbruch und geraten schnell in Vergessenheit. Einige entwickeln sich zu Stars, die irgendwann die Szene verlassen und gut situiert im Außenbereich der Städte leben, andere schnorren sich bis zum bitteren Lebensende durch die Tage und vor allem Nächte. Wiederum andere wurden zu bis heute leuchtende Sterne oder blieben zumindest ein Begriff, was nach über 100 Jahren ja schon eine beträchtliche Leistung ist.

Ich traf auf Namen, die mir völlig unbekannt waren, Peter Altenberg beispielsweise, sicherlich eine der schillerndsten Figuren dieser Café-Zeit, der im Café Central in Wien zu Nachruhm gelangt ist: Er sitzt als lebensgroßes Denkmal am Eingang und begrüßt die Gäste.

Die Ansätze und Motivationen sind sehr unterschiedlich. Hofmannsthal versteht sich eher als Spätgeborener, Schnitzler will die Bürger erschrecken, Mühsam wendet sich gegen den „Konventionsdrill der bürgerlichen Gesellschaft“, Kraus macht mit seiner beißenden, aber meist den Kern treffenden Kritik vor nichts und Niemandem Halt und sich viele Feinde, während Laske-Schüler und Reventlow ihre Kunst eher mit dem Konzept der „freien Liebe“ verbinden.

Ebenso vielfältig waren die Themen und Aktionsfelder. Theater und Literatur, Malerei und Musik. Die Berliner und Münchner sind politischer als die Wiener. Gesellschaftskritik und ihr Kampf gegen die Zensur hatten auch ihren Platz, wobei die Grenze zur Majestätsbeleidigung sehr eng gezogen war und vor allem im Deutschen Reich schnell in einer Gefängnisstrafe enden konnte.
Zeitungen werden gegründet und gehen wieder ein. Wir erleben die Gründung der „Fackel“ durch Karl Kraus, verfolgen die Entstehung und Ausbreitung des politischen Kabaretts.

Nichts Menschliches ist diesen Kreisen fremd. Es gibt viele Beispiele für engere Beziehungen, Streit, Neid, Loyalität und Solidarität. Und trotz vieler miteinander verbrachter, vertrunkener Nächte bleibt teilweise ein gemischtes Fazit, denn es “entstehen keine tiefen Freundschaften. Selbst im Schwabing der Jahrhundertwende bleibt ein jeder Kämpfer in eigener Sache. Der Mythos des Viertels flackert nur auf, wenn die Männer spätnachts das Kaffeehaus verlassen und ihren Heimweg antreten“. Einsamkeit schimmert durch.

Das Kaffeehaus wird zur Institution und zum „Sammelplatz von Müßiggängern und Schwätzern in vielen Fällen. Aber zu weilen ist es auch ein kleines Parlament, eine ungebundene Universität, eine improvisierte Akademie; und manchmal ganz einfach der Salon derjenigen, die keinen haben.“

Das Café Boheme in Antigua, Guatemala, der ideale Ort, um mit diesem Buch zu beginnen.

Eine besondere Symbiose entwickelt sich zwischen Kaffeehaus und Zeitungen, beides war nicht zu trennen, das Kaffeehaus „ eine Börse der Informationen, eine Welt der Worte, des Geistes und des Wissens. Zeitungen, Kaffeehaus sind nicht nur vielfach verschwibbt, wie es jemand auf den Punkt bringt, sondern das eine ist ohne das andere oft nur eine halbe Macht.“

Wahr ist auch, dass diese vermeintliche Idylle ohne mehr oder weniger im Hintergrund verbleibende Mäzene meist nicht überlebensfähig gewesen wäre. Denn den ganzen Tag bei einer Tasse Kaffee mit 20 internationalen Zeitungen im Café sitzen….das hatte was…(man säße heute noch gerne mit am Tisch)…war dann aber irgendwann auch vorbei.

Der Titel „Café Größenwahn“ passt nicht nur für die Cafés, er passt auch für die Epoche. Der Größenwahn war vor allem in der Politik ein zunehmendes Kennzeichen dieser Jahre, nicht zuletzt im Deutschen Reich unter Wilhelm II, das, so ein berühmter Ausspruch, niemanden in den Schatten stellen, aber nun auch endlich seinen Platz an der Sonne wollte. Aber er spiegelt auch insgesamt das Gefühl einer Epoche wieder, in der „das, was gerade noch als größenwahnsinnig galt, auf einmal machbar wird“, sei es die Erreichung des Nordpols oder die Besteigung des Mount Everest.

Der Untertitel ist jedoch etwas hoch gegriffen, hier stößt das Buch an seine Grenzen. Zum Café als „Umschlagplatz der neuesten Großideen“ bleibt das Buch eher blass. Das Buch präsentiert einen Ausschnitt aus einem vielfacettigen Zeitpanorama und kann somit Vieles nicht einfangen. Die vielfältigen Episoden und Erzählungen vermitteln eher das Lebensgefühl und die Lebenswirklichkeit dieser Boheme als einen tiefergehenden Aufriss ihrer inhaltlichen Debatten und Ideen. Das Buch ist kein Geschichtsbuch, mehr ein Geschichtenbuch.

Auch waren die Zeitumstände immer weniger dazu angetan, die Welt neu zu erfinden. Vielmehr griff die (Außen-)Welt immer dramatischer in diese Lebenswelten ein und veränderte sie für immer. Kurze, wenngleich manches Mal etwas vereinfachende Einschübe ermöglichen eine gewisse Einbettung in den sich dramatisch verändernden zeitgeschichtlichen Kontext: Das Wettrüsten, koloniale Ambitionen, die Balkan-Politik des Habsburg-Reiches, die Nationalismen auf dem Balkan oder den aufziehenden Antisemitismus.

Kurz-Biografien der wichtigsten Akteure runden dieses Buch ab.

Trotz der obigen Einschränkung: Das Buch ist atmosphärisch dicht und interessant, flott und amüsant geschrieben. Es lohnt die Lektüre für jeden kulturell oder speziell an dieser Zeit Interessierten.

Eine nicht-literarische Anmerkung zum Schluss: Diese Art von Kaffeehauskultur ist zumindest in Deutschland schon lange weitgehend verschwunden, hier und da aber noch ansatzweise zu finden. Für mich ist das Café Hardenberg in Berlin so ein Ort. Ich vermisse diese Cafés als Begegnungs-, aber auch als ruhigen, einladenden, ja gemütlichen Rückzugsort, gleichsam als wohltuenden Gegenentwurf zu der inzwischen dominierenden Art von „Cafés“, die mit der Anziehungskraft eines kühl-unpersönlichen und dauerbeschallten Bahnhofsbistros allenfalls ein Coffe-to-run-Gefühl erzeugen.

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